System unter Druck
Zur Krisenfestigkeit demokratischer Ideale
Dieser Beitrag erschien zuerst in den WZB Mitteilungen 183.
Demokratie braucht Demokratinnen und Demokraten. Das Ideal der kollektiven Selbstbestimmung lässt sich nur realisieren, wenn die Bürger:innen hinter ihren demokratischen Rechten und den darauf aufbauenden Entscheidungsverfahren stehen und sie im Notfall auch verteidigen. Deshalb ist es zunächst beruhigend, dass es in Umfragen wie dem World Values Survey große Zustimmung zur Aussage gibt, dass Demokratie die beste Staatsform sei.
Allerdings bleibt dabei offen, wie weit der Rückhalt für die Demokratie tatsächlich reicht. Die Autokratisierungstendenzen und das Erstarken radikal-rechter Parteien in vielen Ländern bieten Anlass zur Skepsis. Möglicherweise verknüpfen die Bürger:innen sehr unterschiedliche Ideen mit dem abstrakten Ideal der Demokratie. Konkret könnten erhebliche Differenzen darin bestehen, welche individuellen Rechte und kollektiven Entscheidungsverfahren die Bürger:innen für wirklich verteidigungswürdig halten. Und was, wenn es sich bei der in Umfragen artikulierten Unterstützung für die Demokratie nur um eine Art „Schönwetterphänomen“ handelt – und nicht um tiefsitzende Überzeugungen, die auch unter widrigen Umständen Bestand haben?
Tatsächlich sind die heute drängendsten gesellschaftlichen Probleme nicht immer leicht mit dem Ideal der kollektiven Selbstbestimmung zu vereinbaren. So stellen akute Krisen wie der Ausbruch der Covid-19-Pandemie eine Herausforderung für oftmals langwierige demokratische Meinungsbildungsprozesse und Entscheidungsverfahren dar. Demokratische Mitsprache und Aushandlung könnten auch dann als wenig geeignet betrachtet werden, wenn langfristige Ziele mit kurzfristigen Interessen kollidieren – wie etwa beim Klimawandel. Zudem könnten Zweifel an der Zweckmäßigkeit national verfasster demokratischer Rechte und Verfahren aufkommen, weil viele der aktuellen Herausforderungen transnationalen Charakter haben, neben Pandemie und Klimawandel z.B. auch die Migration. Und schließlich sind all diese gesellschaftlichen Herausforderungen durch hohe Komplexität und Unsicherheit gekennzeichnet, was die demokratische Willensbildung für die einzelnen Bürger:innen, aber auch für die Gesellschaft als Ganzes, kompliziert und kostenträchtig macht.
Die politische Theorie hat vor diesem Hintergrund wieder und wieder betont, dass sich der tatsächliche Rückhalt für die Demokratie erst in Krisenzeiten zeigt, wenn solche Zielkonflikte sichtbar werden. Wie weit reicht also der Rückhalt der Bürger:innen im Kontext großer gesellschaftlicher Herausforderungen - wenn sie die Demokratie nicht nur grundsätzlich befürworten, sondern demokratische Rechte und Entscheidungsverfahren gegen Alternativen abwägen müssen?
Dieser Frage sind wir auf dem Höhepunkt der Delta-Welle der Covid-19-Pandemie im November 2021 mit einer breit angelegten vergleichenden Bevölkerungsumfrage nachgegangen. Unsere Befragten hatten zu diesem Zeitpunkt bereits über anderthalb Jahre weitreichende Regierungsmaßnahmen zur Eindämmung des Virus erlebt. Einschränkungen individueller Rechte und Diskussionen über die (Un-)Angemessenheit verschiedener Entscheidungsverfahren waren damit mehr als nur rein hypothetische Szenarien. Mit Unterstützung des Exzellenzclusters „Contestations of the Liberal Script (SCRIPTS)“ konnten wir je 1.500 wahlberechtigte Befragte in Deutschland, Japan, Polen, Spanien, Südkorea und Ungarn mit zwei innovativen Umfrageexperimenten konfrontieren, die die angesprochenen Zielkonflikte explizit modellierten.
Im ersten Experiment wurden die Befragten wiederholt gebeten, sich zwischen zwei fiktiven, aber realistischen Maßnahmenpaketen zur Eindämmung einer potenziell tödlichen Atemwegserkrankung zu entscheiden. Diese Maßnahmenpakete adressierten stets die gleichen privaten und politischen Rechte der Befragten. Welche davon eingeschränkt werden sollten und welche nicht, wurde jedoch nach dem Zufallsprinzip variiert. Mit Hilfe dieses sogenannten Conjoint-Designs kann statistisch ermittelt werden, wie sich die die verschiedenen Eingriffe in private und politische Rechte der Bürger:innen auf ihre Unterstützung für die Maßnahmenpakete der Regierung auswirken.
Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Bürger:innen sehr sensibel auf Einschränkungen ihrer privaten Rechte reagieren. Insbesondere Restriktionen bezüglich des Verlassens der eigenen Wohnung, Schulschließungen, aber auch Beschränkungen von Einkaufsmöglichkeiten jenseits des täglichen Bedarfs führten zu starker Ablehnung. Beschränkungen des internationalen Reiseverkehrs oder Ermöglichung von Arbeit im Homeoffice führten tendenziell zur stärkeren Unterstützung eines Maßnahmenpakets.
Im Gegensatz dazu hatten Einschränkungen demokratischer Rechte praktisch keinen Einfluss. Konkret thematisierte unser Experiment eine Verschiebung von Wahlen, ein Verbot von Demonstrationen sowie eine stärkere Kontrolle der Medien durch die Regierung. Keiner dieser drei Faktoren hatte einen nennenswerten Effekt darauf, ob die Bürger:innen ein Maßnahmenpaket befürworteten oder ablehnten. Dieses Muster zeigte sich, von geringfügigen Abweichungen abgesehen, in allen sechs untersuchten Ländern.
Es ist nicht überraschend, dass sich die Befragten in erster Linie um ihre persönlichen Freiheiten sorgen. Mit Blick auf das demokratische Ideal ist es aber schon bemerkenswert, dass die Einschränkungen ihrer politischen Rechte überhaupt keine Rolle zu spielen scheinen. Das Experiment scheint eine weitgehende Indifferenz der Bürger:innen gegenüber Einschränkungen ihrer demokratischen Rechte in Krisensituationen zu belegen.
Während das erste Experiment auf die Ergebnisse von Entscheidungsprozessen fokussiert war, standen in unserem zweiten Experiment Verfahren zur Entscheidungsfindung im Mittelpunkt. Einleitend wurde dabei zunächst der Gegenstand des Regierungshandelns nach dem Zufallsprinzip variiert. Für ein Drittel der Befragten ging es um „große gesellschaftliche Herausforderungen wie die Corona-Pandemie“, für ein weiteres Drittel um „große gesellschaftliche Herausforderungen wie den Klimawandel“, für das letzte Drittel schließlich um „große gesellschaftliche Herausforderungen“ ohne weitere Spezifizierung.
Die Befragten wurden sodann gebeten, verschiedene Ansätze zur Entscheidungsfindung zu vergleichen und zu priorisieren, darunter das Einbeziehen der Bevölkerungsmeinung über Umfragen oder Referenden, aber auch parlamentarische Abstimmungen oder das Anstreben eines breiten parteipolitischen Konsenses als typische Verfahren der repräsentativen Demokratie. Weitere Optionen waren der Rückgriff auf Expert:innenmeinungen, die Berücksichtigung von Wirtschaftsinteressen, internationale Koordination oder schlicht und einfach ein möglichst schnelles Regierungshandeln.
Wir verwendeten dazu ein sogenanntes Best-Worst-Skalierungsverfahren, bei dem sich die Befragten wiederholt zwischen den unterschiedlichen Verfahrenslogiken entscheiden mussten. Aus der Summe dieser Entscheidungen lassen sich nun die durchschnittlichen Präferenzordnungen unserer Befragten ermitteln: Wir können also sehen, wie wichtig ihnen dezidiert demokratische Verfahren im Vergleich zu anderen Logiken der Entscheidungsfindung sind. Die über alle sechs Länder gemittelten Ergebnisse dieses Experiments fallen in den sechs recht unterschiedlichen Ländern überraschend ähnlich aus.
Große Übereinstimmung, unabhängig von der Art der gesellschaftlichen Herausforderung, besteht in einem Punkt: Die Konsultation von Expert:innen ist für die Bürger:innen der weitaus wichtigste Ansatz zur Entscheidungsfindung. Die Berücksichtigung von Wirtschaftsinteressen, die direkte Befragung der Bevölkerung durch Referenden oder Umfragen und ein schnelles Handeln folgen mit einigem Abstand auf den weiteren Plätzen. Dabei zeigen sich unmittelbar plausible Unterschiede je nach Art der gesellschaftlichen Herausforderung: Zügiges Regierungshandeln wird vor allem angesichts einer pandemischen Notlage befürwortet. Die Berücksichtigung der öffentlichen Meinung wird interessanterweise vor allem dann favorisiert, wenn die Art der Herausforderung nicht genauer definiert wird. Im Mittel sind den Befragten direkt-demokratische Entscheidungslogiken also ungefähr genauso wichtig wie wirtschaftliche Interessen oder schnelle Entscheidungen allein durch die Exekutive.
Auf den weiteren Plätzen landen die Betonung internationaler Koordination, wobei ihr im beim Klimawandel spürbar größere Bedeutung beigemessen wird, und ganz hinten schließlich die beiden repräsentativ-demokratischen Ansätze: das Anstreben eines parteipolitischen Konsenses und die Legitimierung kollektiver Entscheidungen durch parlamentarische Abstimmungen.
Dabei gibt es, wie bereits diskutiert, zwar einige Unterschiede je nach Art der gesellschaftlichen Herausforderung, zwei zentrale Befunde sind jedoch für alle drei Gruppen gleich: Experteninput wird immer als am wichtigsten gesehen, während parlamentarische Abstimmungen immer am hinteren Ende der Skala landen.
Die deutlich stärkeren Präferenzen für expert:innen- und wirtschaftsorientiertes, zum Teil auch für schnelles Handeln der Regierung stehen durchaus im Widerspruch zum Prinzip der demokratischen Kontrolle durch gleiche und angemessene Beteiligung aller Bürger:innen. Wenn sie gezwungen sind, zwischen unterschiedlichen Verfahren zu entscheiden, bevorzugen die Befragten offenbar die Stärkung von Akteuren, die ihnen gegenüber nicht durch demokratische Mechanismen rechenschaftspflichtig sind. Das heißt nicht, dass eine direkte Beteiligung als komplett unwichtig angesehen wird, aber entsprechende Verfahren rangieren im Schnitt etwa gleichauf mit wirtschaftlichen Interessen oder schnellen Entscheidungen durch die Exekutive. Bemerkenswert ist aber vor allem, dass Schlüsselmechanismen der repräsentativen Demokratie, die Berufung auf Parteien und gewählte parlamentarische Vertreter:innen, als am unwichtigsten angesehen werden. Auch dieses Muster zeigt sich in allen sechs Ländern. Diese Präferenzrangfolge lässt sich kaum mit einem besonders starken Rückhalt für das demokratische Ideal der kollektiven Selbstbestimmung in Einklang bringen.
In der Gesamtschau lassen unsere Befunde zwei mögliche Interpretationen zum Rückhalt für die Demokratie in Krisenzeiten zu. Aus pragmatischer Sicht ließe sich durchaus optimistisch argumentieren, dass die befragten Bürger:innen sehr rational auf die Zielkonflikte zwischen dem Schutz demokratischer Rechte und Entscheidungsverfahren einerseits und der Bewältigung komplexer Herausforderungen wie Pandemien und Klimawandel andererseits blicken. Die starken Präferenzen für expert:innenengeleitete Entscheidungsfindung oder die Betonung internationaler Koordination bei der Bewältigung des Klimawandels stehen dabei im Einklang mit der politikwissenschaftlichen Literatur, die eine Zunahme “technokratischer Präferenzen“ konstatiert.
Aus demokratietheoretischer Sicht lassen sich unsere Befunde aber auch pessimistischer als Ausdruck eines mangelnden Rückhalts für die Demokratie interpretieren. Bürger:innen scheinen ihre politischen Rechte und den damit einhergehenden Einfluss bei schwierigen Herausforderungen nicht nur weniger konsequent als andere Rechte zu verteidigen; sie scheinen ihre indirekten (Mit-)Entscheidungskompetenzen auch bereitwillig an die Exekutive oder an Expert:innen abzutreten. Dies kann durchaus Anlass zur Sorge geben: Die begrenzte Unterstützung zentraler demokratischer Rechte und Prinzipien gerade in Krisenzeiten kann dazu führen, dass demokratische Rechenschaftspflichten der Regierung ausgehöhlt werden, nicht demokratisch legitimierte Akteure an Einfluss gewinnen und Gelegenheiten für eine dauerhafte Schwächung demokratischer Mechanismen entstehen.
In jedem Fall sprechen die Ergebnisse beider Experimente dafür, dass man sich nicht auf der allgemeinen Zustimmung zu abstrakten Idealen der Demokratie in Bevölkerungsumfragen ausruhen sollte. Es ist vielmehr wichtig, die Sichtweisen der Bürger:innen auf die komplexen, mehrdimensionalen Zielkonflikte in der demokratischen Regierungsführung unserer Gesellschaften zu verstehen. Empirische Ansätze, die Befragte zu einer klaren Priorisierung von Zielen und Prinzipien veranlassen, erscheinen aussagekräftiger als allgemeine Fragen zu demokratischen Einstellungen. Angesichts der Häufigkeit von nationalen, regionalen und globalen Krisensituationen sowie der zunehmenden Konkurrenz durch autoritäre Regime scheint es relevanter denn je zu verstehen, wie weiter der der Rückhalt der Bürger:innen für die Demokratie wirklich reicht.
Literatur
Bertsou, Eri, and Daniele Caramani. 2020. The Technocratic Challenge to Democracy. Routledge.
Claassen, Christopher. 2020. “Does Public Support Help Democracy Survive?” American Journal of Political Science 64(1): 118–34.
Hibbing, John R., and Elizabeth Theiss-Morse. 2002. Stealth Democracy: Americans’ Beliefs About How Government Should Work. Cambridge: Cambridge University Press.
Wuttke, Alexander, Konstantin Gavras, and Harald Schoen. 2022. “Have Europeans Grown Tired of Democracy? New Evidence from Eighteen Consolidated Democracies, 1981–2018.” British Journal of Political Science 52(1): 416–28.